Warum überhaupt Therapie

Das Wesentliche von Therapie ist, einen Raum zu schaffen, in dem alles Menschliche - das "Gute" wie das "Böse" - seinen Platz haben darf. Wenn es mir gelingt, über das Symptom und seinen Träger hinaus zu schauen, auf seine persönliche Geschichte und auf das größere Ganze, in das er eingebunden ist, dann fallen alle Wertungen weg. Ich werde demütig, denn ich beginne zu begreifen, dass der Mensch möglicherweise gar nicht anders sein kann, als er ist.

Der amerikanische Dichter Robert Bly bezeichnet unser ursprüngliches Wesen als eine 360°-Persönlichkeit, die von allen Teilen unseres Körpers und ihrer Psyche lebendige Energie ausstrahlt:

"Von dem ganzen Energiebündel, das wir einmal waren, haben wir spätestens mit Mitte zwanzig nur noch eine sehr schüttere Strähne."

Der Mensch ist physiologisch gesehen eine Frühgeburt, d.h. wie kein anderes Wesen muss er von Geburt an alles lernen. Er ist dadurch in höchstem Maße von seiner Umwelt abhängig und das über einen extrem langen Zeitraum hin. Dies gilt nicht nur bzgl. der Erfüllung seiner körperlichen Bedürfnisse, sondern auch der seelischen. Wie sehr das Kind auf ein liebevolles Gegenüber, einen wohlwollenden Spiegel angewiesen ist, zeigt ein Experiment des Staufer-Kaisers Friedrich II. Er wollte erforschen, welche Sprache Kinder sprechen, wenn sie von fremden Ammen ohne jegliche Worte aufgezogen werden. Die Kinder starben.

Der Säugling und seine Aktivitäten lösen im Idealfall Freude und einfühlsame Spiegelung bei seinen Bezugspersonen aus. Bleibt diese bestätigende Empathie und verstehende Resonanz aus, kann das Kind sich nicht im "Glanz in den Augen der Mutter" (Winnicott) wiedererkennen, reagiert sein Organismus mit Verstörung. Fatalerweise ziehen wir von dem Bild, das uns der elterliche Spiegel zurückwirft Rückschlüsse auf uns selbst und halten uns schließlich für das, was wir darin sehen.

Da unsere Eltern aber verletzte, in ihre eigenen Dramen verwickelte Menschen waren, schauten wir in keine neutralen, sondern von elterlichen Hoffnungen, Erwartungen, Ängsten und unbefriedigten Bedürfnissen verzerrte Spiegel. Wir schlossen daraus, dass mit uns etwas grundsätzlich nicht stimmt, dass wir nicht genug, nichts wert oder gar nicht existent sind. Wir fühlten uns zutiefst verletzt.

Um diesen Schmerz erträglich zu machen, lernten wir, uns seelisch und auch körperlich zu verschließen. Dies verschaffte uns die Illusion von Kontrolle und half uns dabei, uns unserer Umwelt anzupassen und zu überleben. Um das Wohlwollen und die Zuneigung derer, die Macht über uns und unser Leben haben, nicht zu verlieren, formten wir uns nach ihrem Bilde. Wir schnitten uns von unserem wahren Wesen ab und begingen einen furchtbaren Selbstverrat, der uns unser ganzes restliches Leben zusetzen werden wird. Als wir erstmal die fundamentale Erfahrung gemacht hatten, dass wir – so wie wir sind - nicht in Ordnung sind, sperrten wir immer mehr von unserem wahren Wesen weg und gaben einer künstlichen, konditionierten Persönlichkeit den so entstandenen Raum.

Mit dieser Oberflächenpersönlichkeit, geboren aus den Erfordernissen und Werten der Umgebung, in der wir aufwuchsen, identifizierten wir uns und sind tragischerweise davon überzeugt, dass uns diese ausmacht. Wir denken, wir seien dieses künstliche Selbst, das auf der Wirkung nach außen – auf Macht, Geld, Besitz, körperliche Schönheit, Intellektualität, Überlegenheit ... – beruht und sich darüber definiert.

Was bleibt uns auch anderes übrig, als diese Leere, die durch den Verlust unseres wahren Wesens, unserer Essenz, unserer Tiefenperson, entstanden ist, zu füllen. Tragischerweise richten wir unsere Sehnsucht nach Erfüllung dorthin, wo sie nie gestillt werden kann: nach außen.

Auf der Suche nach Anerkennung und Bestätigung werden wir zu einer Marionette, an deren Fäden die ziehen, denen wir gefallen wollen.

Alles, um die ursprüngliche Erfahrung des Seins-Verlustes nicht spüren zu müssen. Wir leben nicht mehr, wir werden gelebt. Wirklich heilsam und lohnend aber ist nur der Weg nach innen. Denn unser wahres Wesen ist ja nicht wirklich verloren, sondern unter Schichten zahlreicher verschiedener Identitäten vergraben.

Wenn unsere Eltern kein furchtsames Kind wollten, reden wir uns ein, wir seien groß und stark. Dann werden wir zu Erwachsenen, die "keine Angst kennen und mit allem fertig werden." Wollte niemand unsere Traurigkeit und unseren Kummer sehen, entwickeln wir evtl. die Identität als "fröhlicher, optimistischer Mensch, der solche Gefühle gar nicht kennt".

Wird unser Bedürfnis nach Liebe enttäuscht, bietet es sich an, eine Fassade aufzubauen, hinter der wir unsere Sehnsucht danach verstecken können. Vielleicht werden wir dann noch zusätzlich bewundert für unsere Unabhängig – und Bedürfnislosigkeit. Verschanzt hinter dieser Front unseres falschen Selbst fühlen wir uns sicher und glauben, die Kontrolle zu haben.

Doch das Gegenteil ist der Fall: unter meiner konstruierten Persönlichkeit lauert permanent das Gefühl der Unzulänglichkeit und kann jeden Moment zuschlagen, wenn plötzlich jemand auf der Bildfläche erscheint, der schöner, klüger, mächtiger, erfolgreicher ... ist.

Entscheiden äußerliche Attribute über meinen Wert als Mensch, wird mir der Verlust von Jugend, beruflicher Position, gesellschaftlichem Status usw. als vernichtend erscheinen.

Spätestens dann in der Lebensmitte werden wir mit der unangenehmen Erkenntnis konfrontiert, dass wir evtl. den falschen Idealen nachgejagt sind und fühlen uns vom Leben betrogen.

Auch müssen wir uns der leidvollen Erfahrung stellen, dass das Leben mit zunehmendem Alter eine permanente Verlusterfahrung darstellt, sei es

"reeller" Art, wenn ein geliebter Mensch stirbt oder
"ideell", wenn wir Träume und Lebenspläne zu Grabe tragen müssen.
In der Schule mag man uns mathematische und intellektuelle Fähigkeiten antrainiert haben, aber es mangelt uns an seelischer Bildung, die uns ermöglichen würde, den Herausforderungen des Lebens begegnen zu können. Gewöhnlich fehlen uns in der heutigen Zeit auch die notwendigen Rituale und Menschen die bereit sind, solche Lebensübergänge oder -krisen zu begleiten. Eine Therapie kann ein solches Übergangsritual darstellen.

Etymologisch gesehen stammt der Begriff "Therapeut" aus dem Altgriechischen und bedeutet wörtlich "Wagen -/Weggefährte, aufmerksamer Beobachter". Wenn griechische Krieger eine schwierige Situation zu meistern hatten, ritten sie nicht einfach, Hals und über Kopf los, sondern sie riefen ihren "Therapeutos", ihren Wagengefährten, der auf einer erhöhten Plattform des Streitwagens stehend, weder über Waffen, noch Zügel verfügen konnte. Seine Aufgabe war es, die Übersicht zu behalten, höchst wachsam und präsent zu sein. Er richtete sein Augenmerk auf die Umgebung, das Wetter, Unwegbarkeiten, verdächtige Geräusche, feindliche Waffen, die vielleicht nur den Bruchteil einer Sekunde im Sonnenlicht schimmerten. Durch Rückmeldungen hielt er dem Krieger den Rücken frei, so dass dieser sich völlig auf die Erfüllung seiner Mission konzentrieren konnte.

Naturgemäß hat auch der Therapeut mehr Überblick und Distanz zum Geschehen, weil er die Situation von außen betrachten kann, als derjenige, der mitten im Kampfgeschehen steht. Er/sie kann eine Beziehung, einen Rahmen bieten, in der der Mensch sich (wieder) selbst entdecken kann.

Die Seele, das Unbewusste weiß genau, wohin sich die Person entfalten will und braucht nur einen Raum, in dem sie das aufspüren kann, was sie im Grunde schon selbst weiß.

Die Therapeutin bietet wohl ihr Wissen an, aber viel wichtiger ist ihre Fähigkeit, den inneren Raum offen zu halten und zu wahren. Im geschützten Bereich der Therapie bekommt das Belastende einen neuen Rahmen, in dem es neu gesehen und anders bzw. gar nicht mehr gewertet wird. Es entsteht eine bisher nicht erlebte innere und damit auch äußere Bewegungsfreiheit.