Systemische Therapie

Systemisches Denken geht von der simplen Tatsache aus, dass die Welt, in der wir leben, aus Systemen besteht.

Ein System setzt sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen, die eine bestimmte Ordnung ergeben, zueinander in Beziehung stehen und sich gegenseitig ergänzen.

Es gibt

  • geschlossene Systeme, wie z.B. die Thermoskanne, die – allseitig verschlossen – an ihre Umgebung weder Energie und Materie abgibt, noch von ihr aufnimmt und
  • offene Systeme, die innerhalb eines Mediums existieren, auf das sie reagieren, mit dem sie in beidseitigem Austausch stehen.

Offene Systeme, zu denen auch der Mensch als soziales Wesen zählt, stehen im Spannungsfeld zweier entgegen gesetzter Kräfte. Einerseits eine nach innen gerichtete, konservative, den status quo schützende Tendenz und anderseits eine nach außen orientierte, flexible, auf Veränderung zielende Bestrebung.

Es gehört zu den schwierigen Bedingungen des Menschseins, permanent ein Gleichgewicht auszuloten,

a) uns als Individuum weiterzuentwickeln und der Herausforderung zur Selbstindividuation (1)(Selbst)Individuation ist ein Begriff, den C.G.Jung geprägt hat: „Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte „Individuation“ darum auch als „Verselbstung“ oder als „Selbstverwirklichung“ übersetzen.“
(Jung 1933)

Auf dem Weg seiner Individuation ist der Mensch immer wieder gefordert, sich aktiv und bewusst den neu auftauchenden Problemen zu stellen und seine Entscheidungen vor sich selbst zu verantworten. Individuation bedeutet, sich nicht danach zu richten, „was man sollte“ oder „was im allgemeinen richtig wäre“, sondern in sich hinein zu horchen, um herauszufinden, was die innere Ganzheit (das Selbst) jetzt hier in dieser Situation „von mir oder durch mich“ bewirken will. (Quelle: Wikipedia)
zu stellen und

b) unserem tiefen Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Aufgehobensein in einer Gruppe/Familie Rechnung zu tragen.

Im gegenwärtigen Zeitalter des Individualismus, der "Generation Single" wird dieses Bedürfnis eher negativ bewertet und als kindisch abgetan. Dabei wird unterschätzt, wie sehr wir "neurologisch auf Bindung geeicht" sind. (2)Joachim Bauer, „Warum ich fühle, was du fühlst“, 2006

Beeindruckendes Beispiel dafür ist der so genannte "Vodoo-Tod", der sich bis in die heutige Zeit bei manchen indigenen Völkern beobachten lässt: verstößt ein Stammesmitglied gegen ein heiliges Gebot, wird es mit allen Konsequenzen aus dem Verbund ausgestoßen. Obwohl die körperlichen Bedingungen für sein Überleben gegeben sind, stirbt er in relativ kurzer Zeit. Eine heftige Körperreaktion auf die massive psychische Belastung. (3)Joachim Bauer, „Warum ich fühle, was du fühlst“, 2006 (4)Der Schweizer Psychotherapeut und Physiktheoretiker Gary Bruno Schmid, ausgebildet in Psychotherapie Jungscher Richtung, untersucht in dem Buch "Tod durch Vorstellungskraft" sogenannte psychogene Todesfälle. Er definiert sie als "Sterben allein aus seelischer Ursache" (S.7) Wird die soziale Existenz ausgelöscht, scheint auch der Wille zum physischen Weiterleben gebrochen. Vergleichbar in unserer Gesellschaft ist die erhöhte Sterblichkeit nach Eintritt in den Ruhestand bzw. bei Langzeitarbeitslosigkeit.

Die anspruchsvolle Aufgabe, eine gesunde Balance zwischen "Ich und Du" zu finden, wird zusätzlich dadurch erschwert, dass wir in unzähligen Systemen leben, deren Existenz uns zum Teil gar nicht bewusst ist:

  • die Ursprungfamilie
  • das Paarsystem
  • unsere selbst gegründete Familie
  • unsere Geschlechtszugehörigkeit
  • der Arbeitsplatz, die Berufsgruppe
  • die Gesellschaft, in der wir leben
  • die Ahnen
  • unsere Nationalität, Volksgemeinschaft

und viele mehr.

Alle möglichen Konstellationen, denen wir uns zugehörig und damit auch in gewissem Maße verpflichtet fühlen. Nicht zu unterschätzen ist die Macht dieser Beziehungen (vor allem, wenn sie unbewusst oder verdrängt sind), die uns das Wohlgefühl der Solidarität und Verbundenheit bescheren, gleichzeitig aber auch binden und evtl. fesseln.

Gerade Kinder stellen sich aus Liebe zu Verfügung, um ein pathologisches Gleichgewicht zu erhalten oder herzustellen.

Sie wollen Mama und Papa glücklich sehen und verzichten dafür auf ihr eigenes Leben und Wohlergehen, indem sie zu dem werden, was fehlt. Sie ersetzen dem Papa die früh verstorbene Mutter oder werden zum "Ehemann" der Mutter, wenn der Vater – physisch oder psychisch – abwesend ist. Sie erlauben sich keine eigene Freude, wenn ein Elternteil depressiv ist, keinen Erfolg, wenn sich Papa/Mama als Versager fühlt. Sie zeigen Eigenschaften des verunglückten Geschwister, wenn dessen Tod in der Familie tabuisiert wird.

Und sie werden damit nicht eher aufhören, bis das Ausgegrenzte wieder einen Platz innerhalb des Gefüges bekommen hat.

So wie es in der Natur kein Vakuum gibt und dort, wo Freiraum entsteht, immer etwas nachströmt, gibt es ein systemimmanentes Streben nach Vollständigkeit. Die Systeme, in denen wir leben, aber auch unser Körper und unsere Psyche, versuchen ständig, die verlorene Ganzheit wieder zu erlangen, indem sie Störungen jedweder Art, auch Symptome genannt, generieren.

"Die Auslösung eines Symptoms ist die sinnvolle innerpsychische Regulation
einer als belastend erlebten Situation – ein problematischer Selbstheilungsversuch."
(Siegmund Freud)

Die Systemische Therapie hat den Anspruch, diese Bindungen bzw. deren Qualität bewusst und damit fühl- und erfahrbar zu machen. Dabei geht es nicht darum, eine Bindung zu zerstören, sondern sie wieder in ihre gesunde Ausgewogenheit zu bringen.